Ja … Und? Was geht mich Alice an?

Lesen Sie den Roman Little Brother von Cory Doctorow, falls Sie nicht überzeugt sind, dass Überwachung im Internet, im Internet der Dinge und in der Welt im Allgemeinen, auch und gerade unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung, eine wahnwitzige Idee ist. Lesen Sie den Roman ZERO von Marc Elsberg, wenn Sie wissen wollen, was Internetkonzerne mit unseren Daten machen und wie sie uns zu steuern versuchen. Weiter unten komme ich auf diese Buchempfehlungen zurück.

Informationelle Selbstbestimmung und Privatsphäre sind abstrakte und komplexe Konzepte, deren Wert schwierig zu bemessen ist. Dies zeigt sich etwa am beliebten Nothing-to-Hide-Argument, das besagt, dass Datenschutz lediglich Täterschutz sei bzw. dass jemand, der nichts zu verbergen habe, auch nichts gegen die automatisierte Sammlung und Analyse personenbezogener Daten einwenden könne. Eine differenzierte Diskussion dieses Arguments liefert Jura-Professor Daniel Solove in seinem 2007 veröffentlichten Aufsatz “I’ve Got Nothing to Hide” and Other Misunderstandings of Privacy.

Insbesondere weist Solove darauf hin, dass das Nothing-to-Hide-Argument nicht die Fülle an Problemen berücksichtigt, die aus einem Mangel an Privacy resultieren können. (Es gibt im Englischen keine gängige Übersetzung für den etwas sperrigen, aber dennoch starken deutschen Begriff „informationelle Selbstbestimmung“; „Privacy“ bei Solove umfasst sowohl Privatsphäre als auch informationelle Selbstbestimmung.) Besonders überzeugend erscheint mir seine bereits ältere Unterscheidung orwellscher und kafkaesker Probleme. Orwellsch sind in Anlehnung an den Roman 1984 von George Orwell diejenigen Probleme, die aus Überwachung resultieren, während die kafkaesken in Anlehnung an den Roman Der Prozess von Franz Kafka Hilflosigkeit und Verwundbarkeit mit sich bringen, die aus fehlender Transparenz und Kontrolle resultieren. Ich empfehle, beide Romane zu lesen und erläutere im Folgenden, worum es geht.

Orwellsche Bedrohungen der Privatsphäre

Die orwellschen Bedrohungen für Privatsphäre sind diejenigen, die im Zusammenhang mit Datenschutz wohl eher im Blickpunkt stehen, und sie betreffen die Unterdrückung unerwünschten oder abweichenden Verhaltens durch Überwachung und Bespitzelung. Während sofort einsichtig sein dürfte, dass Überwachung unter undemokratischen Regimes, in denen oppositionelle Meinungsäußerung zu Folter und Tod führt, unerwünschte freie Meinungsäußerungen einschränken wird, sind derartige Effekte in „gesunden“ Demokratien weniger offensichtlich. Dennoch sind beispielsweise das deutsche Verfassungsgericht und der US Supreme Court einig, dass durch Überwachung die individuelle Entfaltung, Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit eingeschränkt werden und damit der Reichtum einer Demokratie gefährdet wird. (Im Englischen gibt es den schönen Begriff „chilling effects“ für dieses Phänomen.) Dies zeigt sich im Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1983, das als Geburtsstunde unsere Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung gilt, und im Urteil des US Supreme Court aus dem Jahre 1995, das anonyme Meinungsäußerungen als ehrenwerte Tradition für Zustimmung und Widerspruch sowie als Schutz vor der Tyrannei der Mehrheit ansieht.

Losgelöst von verfassungsrechtlichen Ansprüchen sei an einige Situationen unerwünschter Überwachung erinnert: Zunächst sehe ich Bereiche der Privatsphäre, auf die die meisten Menschen nicht von Fremden auf der Straße angesprochen werden möchten: Suche nach Hilfe bei Problemen mit Partner/in, in der Schule, im Familien- oder Freundeskreis, im Berufsleben; Rat bei medizinischen Fragen, Suchtproblemen oder in Missbrauchsfällen. Ich denke nicht, dass es irgendjemanden geben sollte, der mich im Internet in solchen Fällen beobachten kann, insbesondere weder der Internet-Provider noch der werbewirtschaftlich ausgerichtete Betreiber eines sozialen Netzwerkes oder unbekannte Dritte mit Zugriff auf deren Infrastrukturen.

Ich bin überzeugt, dass menschliche Kommunikation generell die Privatangelegenheit der Beteiligten sein sollte, unabhängig vom Thema, vom Kommunikationsmedium und der Anzahl der Beteiligten. So wie das Gespräch mit meiner Frau in den eigenen vier Wänden unsere Privatangelegenheit ist, wünsche ich mir auch dann Privatsphäre, wenn wir uns während der Kommunikation an verschiedenen Orten aufhalten (wir also per Telefon oder Internet kommunizieren) oder wenn ich mich in einer größeren Gruppe befinde, beispielsweise bei Freunden oder im Sportverein. Private, vergängliche, unaufgezeichnete Kommunikation muss der Normalfall bleiben – sofern wir nicht bewusst darauf verzichten.

Die Realität sieht, wie wir wissen, völlig anders aus. Massenüberwachung durch staatliche Stellen und durch Privatfirmen hat die orwellschen Phantasien längst hinter sich gelassen, weshalb Alice und Bob digitale Selbstverteidigung erlernen, um ihre Privatsphäre sowie ihre Grund- und Menschenrechte zu verteidigen. (Im Abschnitt zu [Messengern][alternative-messenger] habe ich darauf hingewiesen, dass es mit OTR und OMEMO Protokolle gibt, die unsere Gespräche schützen, wenn wir die richtigen Anwendungen einsetzen. Auf Anonymisierungsdienste und E-Mail-Verschlüsselung gehe ich später ein.)

Kafkaeske Bedrohungen der Selbstbestimmung

Die bisher skizzierte orwellsche Ausgangssituation wird noch durch kafkaeske Bedrohungen verschärft, die zu Hilflosigkeit und Verwundbarkeit führen, weil Transparenz und Kontrolle in der Verarbeitung personenbezogener Daten fehlen. Es werden mehr und mehr Daten über uns gespeichert und verwendet, ohne dass wir uns dessen bewusst wären. Problematisch wird dies, wenn versucht wird, Profile zu erstellen, die Prognosen über zukünftiges Verhalten erlauben sollen, und dann basierend auf diesen Prognosen präventive Maßnahmen ergriffen werden. Weil Prognosen naturgemäß ungenau sind (besonders wenn sie die Zukunft betreffen), werden auf der Basis von Profilen ergriffene Maßnahmen im Einzelfall völlig unverhältnismäßig sein oder willkürlich erscheinen und zu nicht nachvollziehbaren Effekten führen. Einige Beispiele mögen verdeutlichen, dass unter diesen, heute schon existierenden Bedingungen jede/r Einzelne um seine Freiheit fürchten darf – auch wer nichts Verbotenes macht. Durch Vorratsspeicherung (mit dem Ziel der Terrorbekämpfung) wird sich die Situation sicher nicht verbessern.

Betrachten Sie erstens den „Fall“ al-Masri. Haben Sie den noch in Erinnerung? Wenn nicht, lesen Sie den Wikipedia-Artikel über al-Masri oder diese Darstellung seines Schicksals in der Zeit, und seien Sie dankbar, wenn Sie mit einem klassischen deutschen Namen geboren wurden und wenn Sie auch sonst nicht zufällig im falschen Raster landen.

Halten Sie sich zweitens vor Augen, dass in den USA Zehntausende von Flugpassagieren fälschlicherweise als Terrorverdächtige behandelt werden; wer auf der No-Fly-List steht, darf zwar noch Flugtickets kaufen, aber das Flugzeug dann überraschend nicht betreten.

Vergegenwärtigen Sie sich drittens, dass in Deutschland Datensammlungen wie die im Jahr 2005 breiter diskutierte Datei „Gewalttäter Sport“ angelegt werden, in die auch unbescholtene Fans am Rechtsstaat vorbei aufgenommen werden, was beispielsweise Ausreiseverbote nach sich zieht. Derartige Datensammlungen rund um Fußballspiele werden auch in 2016 noch fleißig ausgebaut. Ähnlich werden offenbar auch beim BKA am Rechtsstaat vorbei Datensammlungen aufgebaut, wie im Zusammenhang mit dem Entzug von Akkreditierungen zum G20-Gipfel in 2017 bekannt wurde: Journalisten durften ohne Angabe von Gründen ihrer Arbeit nicht mehr nachkommen; im Nachhinein wurde festgestellt, „dass den Betroffenen Delikte vorgeworfen würden, die sie nachweislich nicht begangen haben“.

Fragen Sie sich viertens, wie Scoring mit der Vergabe von Krediten und der Höhe der zu zahlenden Zinsen zusammenhängt: Uns unbekannte Daten entscheiden in unbekannter Weise, ob und wenn ja zu welchen Konditionen wir Kredite oder Handy-Verträge erhalten. Im Jahre 2014 hat der Bundesgerichtshof in einem bestürzenden Urteil entschieden, dass Firmen wie die Schufa nicht erklären müssen, wie sie das Scoring berechnen, was unsere kafkaeske Hilflosigkeit zementiert, wenn wir uns falsch bewertet fühlen.

Fünftens sollen Personalverantwortliche zur Auswahl geeigneter Bewerber/innen vermehrt auf Internet-Recherche setzen. Die weiter unten umrissenen Möglichkeiten zur Erstellung von Persönlichkeitsprofilen ausgehend von Datenspuren im Internet deuten die Ausmaße bestehender Möglichkeiten an.

In all diesen Beispielen werden auf der Grundlage von Datensammlungen, die den Betroffenen unbekannt sind, Entscheidungen gefällt, die von den Betroffenen weder nachvollzogen noch überprüft werden können. Dies verkörpert kafkaeske Hilflosigkeit und Verwundbarkeit.

Neben dieser kurzen Nennung ausgewählter Fälle von Profilbildung seien zwei Möglichkeiten der modernen Datenanalyse, die auch unter den Begriffen Data Mining, Data Analytics, Predictive Analytics, Data Science oder Big Data diskutiert wird, ausführlicher vorgestellt: Die Kundenanalyse basierend auf dem mit Kunden- oder EC- bzw. Kreditkarten zusammengeführten Kaufverhalten und die psychologische Persönlichkeitsanalyse anhand von Daten sozialer Netzwerke.

Im Jahre 2012 machte die US-Supermarktkette Target dank ihrer ausgefeilten Kundenanalysen Schlagzeilen in der New York Times. Für gezielte Werbeaktionen sind Firmen wie Target unter anderem an Änderungen der Lebensumstände ihrer Kunden interessiert, die erhöhtes Konsumverhalten erwarten lassen (z. B. Job-Wechsel, Hausbau, Hochzeit, Geburt von Kindern). Besonders bei der Geburt von Kindern erschien es Target vorteilhaft (und wir dürfen wohl annehmen, dass nicht nur Target dieser Denkweise folgt), vor der Konkurrenz von Schwangerschaften zu wissen, um Kunden frühzeitig passend umwerben zu können. Target gelang es tatsächlich, Änderungen in den Mustern des Kaufverhaltens schwangerer Frauen zu erkennen und so bevorstehende Geburten mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits im zweiten Drittel der Schwangerschaft vorherzusagen. In einem Fall entdeckte der Vater einer Schülerin die von Target verschickten Rabattgutscheine für Babykleidung und Krippen. Empört wandte er sich an Target, ob man dort seine Tochter zu einer Schwangerschaft ermuntern wolle. Wie sich nach familieninternen Gesprächen herausstellte, war die Tochter tatsächlich schwanger, und Target wusste dies vor dem Vater.

Vorhersage von Schwangerschaften durch Muster im Kaufverhalten. Ist das akzeptabel oder gruselig? Es würde mich überraschen, wenn solche Techniken nicht auch bei Allergien, chronischen Krankheiten, Mager- oder Drogensucht, Depressionen oder der sexuellen Orientierung funktionierten. Lassen Sie Ihrer Phantasie mal freien Lauf.

Sollten Sie öfter auf Bargeld ohne Kundenkarte zurückgreifen?

Der New-York-Times-Artikel stellt klar, dass Target das eigene Verhalten als fragwürdig erkannt hat, leider nicht aus ethischen, sondern aus kommerziellen Erwägungen: Kunden reagierten verstört, wenn Target ohne erkennbare Grundlage um ihre als privat angenommenen Lebensumstände wusste. Die Konsequenz bei Target war dann nicht, auf derartige Analysemethoden zu verzichten. Stattdessen wird Werbung, die auf derartigen Prognosen basiert, nicht mehr plump in separaten Werbeaktionen versandt, sondern wie zufällig unter „normale“ Werbung gemischt, damit Kunden nicht mehr so leicht erkennen können, welche Fakten die Supermarktkette über ihre privaten Lebensumstände prognostiziert hat. Dieser Artikel verdeutlicht also nicht nur die Möglichkeiten moderner Konsumanalysen, sondern auch, dass wir bewusst im Unklaren über diese Möglichkeiten gehalten werden.

Der New-York-Times-Artikel hat zunächst nichts mit dem Internet zu tun. Die skizzierten Analysen sind bereits dank der vergleichsweise eingeschränkten Datenspuren möglich, die wir (bei Verzicht auf Bargeld) beim Einkaufen in der physischen Welt hinterlassen. Online erzeugen wir prinzipiell bei jedem Schritt und Klick deutlich umfangreichere Datenspuren, was Einkäufe ebenso umfasst wie die vorangehende Recherche, unsere Kommunikation, unsere Meinungsbildung und -äußerung, unser Denken.

Inzwischen existieren vielfältige wissenschaftliche Studien, welche die heutigen Möglichkeiten demonstrieren und vorantreiben. So verdeutlichte eine wissenschaftliche Studie zur Gesichtserkennung im Jahre 2011 im Wesentlichen, dass es bereits damals möglich war, nur mit dem Foto einer Smartphone-Kamera umfangreiche Internet-Dossiers von Fremden zu erstellen.

Weitere Studien befassen sich mit der Analyse von Facebook-Likes. Im Jahre 2013 wurde gezeigt, dass Facebook-Likes mit hoher Genauigkeit für Prognosen von Geschlecht und sexueller Orientierung, Intelligenz, ethnischer Herkunft, politischen Einstellungen, Religionszugehörigkeit und Drogenkonsum genutzt werden können (PDF).

Im Jahre 2015 wurde eine Studie zur Prognose psychologischer Persönlichkeitsprofile (Big Five) veröffentlicht, in der gezeigt wird, dass Prognosen von Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit auf der Basis von Likes genauer sind als die Einschätzungen von Freunden und Kollegen. Angesichts dieses Ergebnisses spekulieren die Autoren, dass wir zukünftig zentrale Entscheidungen zu Karrierepfaden oder zur Partnerwahl Computern überlassen könnten, weil deren datengetriebene Vorschläge unsere Leben verbessern werden. Andererseits warnen sie vor Möglichkeiten der Manipulation und Einflussnahme, wenn Dritte uns besser kennen als unsere nächsten Familienmitglieder.

Wenn Sie Facebook (regelmäßig) verwenden, können Sie Ihr Persönlichkeitsprofil mit Hilfe des Werkzeugs Apply Magic Sauce berechnen lassen, das von Forschern der Universität Cambridge bereitgestellt wird, unter denen einige auch an obigen Studien beteiligt waren. (Da ich Facebook nicht nutze, kann ich nichts zu den Ergebnissen sagen.)

Im Sommer 2016 veröffentlichte die Washington Post eine Liste von 98 persönlichen Merkmalen, die Facebook verwendet, um Werbung zu personalisieren. Manches ist zu erwarten, aber schauen Sie mal rein, ob Sie das alles so und so vorgeblich präzise erwartet hätten.

Was denken Sie, wer Daten für Prognose- und andere Zwecke von Facebook kauft und was damit anstellt?

Natürlich machen Facebook Likes nur einen Baustein im Puzzle unseres Kauf-, Lese- und Kommunikationsverhaltens im Internet aus. Wenig diskutiert aber bereits praktiziert werden beispielsweise Analysen unserer Sprache. So wurde im Jahre 2015 in der FAZ die Firma Psyware vorgestellt. Diese Firma erstellt Persönlichkeitsprofile durch die automatisierte Analyse von aufgezeichneten Telefonaten, die mit Sprachcomputern geführt wurden. Die Auswertung 15-minütiger Gespräche erlaubt die Erstellung von Persönlichkeitsprofilen, deren Genauigkeit fast derjenigen entspricht, die von Psychologen mit aufwändigen Testverfahren erreicht werden kann. Zu den Kunden von Psyware gehören Banken, Versicherer, die Polizei, Online-Partnerbörsen.

Zudem gibt es diverse medizinische Studien, die sich mit der Erkennung von Erkrankungen durch die Analyse von Sprache befassen. Dies funktioniert etwa für Psychosen, Alzheimer und Parkinson.

Mir fällt spontan Skype ein, wenn ich mich frage, bei wem man wohl Zugriff auf umfangreiche Gesprächsdaten erlangen kann. Freie, dezentralisierte, verschlüsselte Alternativen erscheinen mir sehr wertvoll, etwa die anderswo genannten Alternativen Mumble oder Spreed.ME.

Die Konsequenzen der bisher skizzierten kafkaesken Bedrohungen sind für uns überwiegend sichtbar, wenn auch unverständlich. Perfider sind Szenarien, in denen wir gar nicht bemerken, dass wir individuell manipuliert werden. Eine subtile Form der Manipulation menschlichen Verhaltens und menschlicher Entscheidungen wird euphemistisch als Nudging oder Big Nudging (von engl. to nudge, anstupsen) bezeichnet. Im positiven Sinne sollen Menschen durch äußere Anreize, die typischerweise nur unbewusst wirken, zu besserem Verhalten geführt werden, etwa bezüglich ihres Ernährungs- oder Umweltverhaltens. So wird empfohlen, dass Süßigkeiten auf Buffets schwieriger zu greifen sein sollten als Obst, um gesunde Ernährung zu fördern. Oder dass in Urinalen angebrachte Fliegen die Zielfähigkeit der Männer erhöhen.

Werbung war schon immer eine Form von Nudging. Neu ist, dass Nudging basierend auf Datenspuren personalisiert wird. Es erhält nicht mehr jede Frau Schwangerschaftswerbung, sondern nur noch Schwangere (und deren Umfeld, siehe Target-Beispiel oben), allerdings ohne dass dies für sie erkennbar wäre.

Suchergebnisse und Nachrichten im Internet werden für unterschiedliche Menschen unterschiedlich sortiert, was zum Phänomen der Filterblase führt, wodurch unser Denken geleitet wird, ohne dass wir dies bemerken könnten.

Noch unheimlicher finde ich folgende Erkenntnis aus dem Jahr 2014 (also weit vor den Enthüllungen rund um Cambridge Analytica): Facebook kann unsere Emotionen manipulieren und ausgewählte Gruppen anregen, an politischen Wahlen teilzunehmen.

Nudging wird umso erfolgreicher ausfallen, je genauer es an uns und unsere Vorlieben und Lebenssituationen angepasst werden kann. Wo immer wir Dritten ermöglichen, Daten über uns zu sammeln, entstehen die Grundlagen für Prognosen und Manipulationen, von denen wir nichts wissen und die unsere Leben in unverständlichen Weisen beeinflussen werden.

In dem oben erwähnten Roman ZERO von Marc Elsberg wird eine Welt entworfen, in der eine Firma basierend auf Auswertungen freiwillig bereitgestellter Daten Hilfe in allen Lebenslagen anbietet, wobei neben den als solchen erkennbaren Hilfen auch subtile Formen unbemerkter Manipulationen eingesetzt werden.

Ich hab’ nix zu verbergen. Möglich, aber unwahrscheinlich. Und irrelevant.

Nach der Erörterung orwellscher und kafkaesker Bedrohungen möchte ich auf das Nothing-To-Hide-Argument zurückkommen. Wenn Sie „normal“ und wohlhabend und gesund sind und bleiben und dies auch auf Ihre Liebsten zutrifft, haben Sie vielleicht wirklich nichts zu verbergen. Herzlichen Glückwunsch!

Allerdings lohnt es sich zu bedenken, dass die Bewertung, ob etwas „normal“ oder „verbergenswert“ ist, sowohl vom aktuellen Rechtssystem als auch von der verfügbaren Technologie abhängt. Die verdachtsunabhängige Überwachung der gesamten Bevölkerung (neben Vorratsspeicherung in der Telekommunikation auch bei digitalen Fotos und Fingerabdrücken für den ePass, Fotos aller Fahrzeuge und Fahrer [nicht nur LKW!] an jeder Mautbrücke, Bundestrojaner zur Online-Durchsuchung, Bargeldbegrenzungen zur Erzeugung zusätzlicher Datenspuren bei jeder Zahlung usw.) zeigt in meiner Wahrnehmung ein tiefes Misstrauen der Überwachenden gegenüber der Gesellschaft. Dieses Misstrauen kann ich bei totalitären oder diktatorischen Staaten nachvollziehen, in demokratischen Staaten in Europa jedoch nicht. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte frage ich mich allerdings, ob es selbstverständlich ist, dass Deutschland auf ewig eine Demokratie bleibt. (Jahrelang schrieb ich hier, der Rückgang der Wahlbeteiligung spräche nicht dafür; seit der Bundestagswahl 2017 dürfte klar sein, dass größere Zunahmen in der Wahlbeteiligung nicht zu mehr Freiheit führen müssen, sondern auch in Angst und selbstgewählte Abschottung vor sowie Ausgrenzung von „den anderen“ führen können.) Gab es bei uns nicht mal Gestapo, SA, SS und Stasi? Was die wohl mit den unter Vorratsspeicherung und unten skizziertem Überwachungskapitalismus erhobenen Daten gemacht hätten? Wären Sie da „normal“ gewesen?

Die Frage, ob Bob etwas „Verbergenswertes“ oder gar „Verbotenes“ macht oder nicht, hängt offenbar vom Standpunkt der Regierenden ab (Alice denkt an den Widerstand im Dritten Reich, Oppositionelle in der DDR, Tibeter, Falun-Gong-Anhänger in China oder den Arabischen Frühling). Eben Moglen prophezeite im Jahre 2013:

„Unabhängig von Ihren politischen Präferenzen fängt irgendwo auf der Welt jetzt eine Regierung, deren Prinzipien Sie komplett ablehnen, damit an, das Netz zu nutzen, um Unterstützung zu finden, Einfluss auf die Bevölkerung zu nehmen und ihre Feinde zu entdecken. Überall auf der Welt werden von nun an die Regierungen, die tyrannische Züge annehmen, über ungeheuer leistungsfähige neue Werkzeuge verfügen, um dauerhaft an der Macht zu bleiben.“

Ich möchte in keiner Gesellschaft leben, deren Überwachungsmaßnahmen als Vorbild und Rechtfertigung für tyrannische Regierungen dienen. Ich träume, dass wir besser sein können.

Unabhängig von politischen Erwägungen hängt die Einschätzung, ob Bob „normal“ ist, davon ab, was an welchem Maßstab mit welchen Methoden gemessen wird. Wie im vorigen Abschnitt ausgeführt können mit Facebook Likes im Speziellen bzw. mit Datenspuren im Netz im Allgemeinen beispielsweise Persönlichkeitsprofile erstellt werden. Wenn Bob Pech hat, sehen die ihn betreffenden Prognosen vor dem Hintergrund eines Bewerbungsverfahrens schlecht für ihn aus (z. B. weil er unnormal ist oder weil die Prognose einfach falsch ist). Ebenso erhält er vielleicht keinen neuen Handy-Vertrag, weil sein Scoring schlecht ausfällt, obwohl er den Vertrag locker hätte bezahlen können und wollen. Er hätte vielleicht doch etwas verbergen sollen, weiß aber nicht, was. (Es ist wenig verwunderlich, dass positiv wirkende Datenspuren gezielt gelegt werden – etwa als Dienstleistungen spezialisierter Firmen oder durch Studierende, die ihren Sport mit mehreren Fitness-Trackern verschiedener Menschen absolvieren, aber das ist ein anderes Thema.)

In der Versicherungsbranche zeichnet sich zudem ein Trend zur Entsolidarisierung ab, der durch technische „Fortschritte“ möglich wird. KFZ-Versicherungen bieten Rabatte für „gute“ Autofahrer, die ihr Fahrverhalten mit einer Blackbox aufzeichnen und auswerten lassen. Da die überwältigende Mehrheit der Autofahrer glaubt, sie gehöre zur besseren Hälfte, wird vermutlich auch die überwältigende Mehrheit glauben, sie könne bei diesem Deal gewinnen. Offenbar kann das nicht stimmen. Gewinnen wird in jedem Fall die Versicherung.

Lesen Sie unbedingt den zugehörigen, kurzen Artikel, der dieses Phänomen mit dem Dunning-Kruger-Effekt erklärt, nämlich der menschlichen Tendenz, eigenes Können im Vergleich zu anderen zu überschätzen. Kurz gesagt: Die meisten von uns halten sich nicht nur für normal, sondern sogar für besser als normal. Viele ahnen demnach nicht einmal, dass sie etwas zu verbergen hätten.

In ähnlicher Weise bieten Krankenversicherungen günstigere Tarife im Austausch gegen die Vermessung von Vitalwerten, heute vielleicht die täglich zurückgelegten Schrittzahlen (und nebenbei die Intensität und Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs), morgen den genetischen Fingerabdruck und stündliche Blutwerte.

Waren Versicherungen nicht ursprünglich als Solidargemeinschaften angelegt, wo Schwächeren geholfen wird? Wir müssen gar nicht wissen, was „normal“ ist, damit das funktioniert. Dann müssen wir auch nicht die verbergenswerten Daten erheben, mit denen die Schwächeren stigmatisiert werden.

Diese Beispiele aus der Versicherungswirtschaft passen zum von der Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff postulierten Überwachungskapitalismus. Ihr zufolge befinden wir uns im neuen Zeitalter des maßgeblich von Google vorangetriebenen Überwachungskapitalismus (FAZ, 2016) (engl. surveillance capitalism; wissenschaftliche Grundlagenarbeit als PDF): Unsere aus digitalen Interaktionen mit kostenlosen Diensten gewonnenen Verhaltensdaten werden als „Verhaltensüberschuss“ extrahiert und analysiert, wodurch neue Produkte auf neuartigen Märkten entstehen, auf denen wir weder als Käufer noch als Verkäufer beteiligt sind. Stattdessen sind wir lediglich Quellen für kostenlose Rohstoffe in neuartigen Produktionsprozessen.

Durch Big-Data-Algorithmen werden diese Rohstoffe in Vorhersageprodukte umgewandelt, die auf Märkten für zukünftiges Verhalten gehandelt werden. Nachdem zunächst hauptsächlich Werbetreibende als Kunden dieser Märkte agierten, sieht Zuboff den Trend, „dass jeder Akteur, der Interesse daran hat, probabilistische Informationen über unser Verhalten zu nutzen und/oder zukünftiges Verhalten zu beeinflussen, als Käufer auf einem Markt auftreten kann, auf dem das zukünftige Verhalten von Individuen, Gruppen, Körpern und Dingen vorausgesagt und für die Erzielung von Gewinnen genutzt wird.“

Zudem argumentiert Zuboff, dass unsere Entscheidungsrechte in Bezug auf Privatsphäre im Überwachungskapitalismus umverteilt werden. Wir besitzen diese Rechte nicht mehr, da sie auf Firmen wie Google übergehen, die entscheiden können, welche Daten über uns sie wann zu welchen Zwecken einsetzen, etwa für Belohnung und Strafe jenseits demokratischer Kontrolle.

In der oben erwähnten Grundlagenarbeit führt Zuboff allgemeiner aus, dass permanente Überwachung die Unsicherheiten ausräumt, die bisher Ausgangspunkte für Verträge und Gesetze waren. Während wir uns bisher bewusst entscheiden konnten, Verträge und Gesetze einzuhalten, wird es angesichts eines allumfassenden „Big Other“ keine Entscheidungsfreiheit mehr geben. Konformität wird Teil einer neuen Ordnung, in der Gesetze, Verträge und Vertrauen abgelöst werden.

Überlegen Sie selbst, wie weit Sie den Einschätzungen von Zuboff folgen wollen. Alice, Bob und ich sind uns einig, dass wir nicht als kostenlose Rohstoffe ausgebeutet werden wollen.

Digitale Selbstverteidigung ist notwendig und möglich, sie ist alternativlos.

Aber die Terroristen!

Bei uns wird die elektronische Kommunikation nicht massenhaft und grundgesetzwidrig überwacht, weil dies eine sinnvolle Maßnahme zur Steigerung der allgemeinen Sicherheit wäre: Einerseits weichen Kriminelle, besonders die Organisierten und die Terroristen, auf Wegwerf-Handys (engl. burner phones), die nur einmal verwendet werden wie im November 2015 in Paris, oder auf Anonymisierungsdienste und gestohlene Identitäten aus, um Kommunikationsmuster zu verbergen und der Vorratsdatenspeicherung zu entgehen; andererseits muss die Vorbeugung von terroristischen Anschlägen durch Analysen von Vorratsdaten aus mathematischen Gründen fehlschlagen, der Base Rate Fallacy. Elektronische Kommunikation wird überwacht, weil das technisch einfach möglich ist, daher Begehrlichkeiten bei Ermittlungsbehörden weckt und den Anschein von Tatkraft erwecken soll.

Weil es keine absolute Sicherheit gibt, muss jedes Streben nach Sicherheit endlos und unstillbar bleiben. Entsprechend rechtfertigt die „Befriedigung“ dieses Strebens den Einsatz jeder aktuell technisch machbaren sicherheitssteigernden Maßnahme. Lassen Sie sich bitte nicht von fehlgeleiteten Innenpolitikern verwirren, die inbrünstig behaupten, flächendeckende und anlasslose Überwachung sei zum Schutz vor Terror unverzichtbar. In der New York Times war im Juli 2013 zu lesen, dass seit 2005 jährlich 23 Amerikaner durch Terror sterben. Dreiundzwanzig! Etwa doppelt so viele sterben an Bienen- und Wespenstichen, 15-mal so viele durch Stürze von Leitern. Bedenken Sie jetzt, dass im Sommer 2013 in Deutschland 250 Menschen bei Badeunfällen gestorben sind. Jährlich gibt es bei uns mehr als 3000 Verkehrstote. An den Folgen von Alkoholmissbrauch sollen sogar 74.000 Menschen pro Jahr in Deutschland sterben. Natürlich sind Terrorakte wesentlich medien- und wahlkampfwirksamer. Aber wenn Sie um Ihre Sicherheit besorgt sind oder gar die Ihrer Mitmenschen, gibt es offenbar deutlich wichtigere Themen als Terrorismus.

Dreiundzwanzig!

Zudem bin ich sehr beunruhigt, dass Terroristen den Ermittlungsbehörden im Vorfeld regelmäßig bekannt sind, bevor sie ihre Taten ausführen. Das war beim 11. September so, und das gilt für den Boston-Marathon wie auch für mindestens vier andere Fälle in den USA zwischen 2008 und 2013, für die Terroranschläge auf Charlie Hebdo im Januar 2015 sowie für diejenigen am 13. November 2015 in Paris. Auf Spiegel Online hat Sascha Lobo im März 2016 recherchiert, dass alle 15 identifizierten islamistischen Attentäter, die in den letzten zwei Jahren in der EU Anschläge verübt hatten, einschlägig im islamistischen Kontext behördlich bekannt waren. Er bezeichnet dies als „tiefgreifendes, strukturelles, multiples Staatsversagen“. Dem gibt es nichts hinzuzufügen.

Grenzenlose Überwachung ist gerade in Mode, und warum sollten wir bei elektronischer Kommunikation stehen bleiben? Es gibt seit längerer Zeit Projekte, die zeigen, dass wir wesentlich mehr überwachen können – nämlich unser gesamtes Leben (siehe z. B. MyLifeBits). Die Idee, sich eine Videokamera mit Mikrophon auf den Kopf zu schnallen und die aufgenommenen Daten für die Ewigkeit zu speichern, war bei Projektstart (ca. 2002) noch neu. Heute können Smartphones, Brillen oder Uhren diese Aufgabe übernehmen, morgen ein Implantat in der Netzhaut oder gleich im Gehirn.

Es würde sicherlich nur noch wenige Verbrechen geben, wenn jede/r gesetzlich verpflichtet würde, so ein Implantat zu tragen und die Daten an einen vertrauenswürdigen Server einer vertrauenswürdigen Ermittlungsbehörde zu senden. Immer und überall. Dann haben wir nichts mehr zu verbergen.

Gehen Sie in eine Buchhandlung Ihres Vertrauens, kaufen und lesen Sie die Romane The Circle von Dave Eggers, Little Brother von Cory Doctorow und ZERO von Marc Elsberg. Ersterer entwirft eine orwellsche Entwicklung unserer Welt, der zweite eine kafkaeske, letzterer kombiniert beides – Weckrufe mit Denkanstößen zur Verteidigung unserer Freiheit. Alle Bücher sind in deutscher Sprache verfügbar. Little Brother steht unter einer Creative-Commons-Lizenz und wird auf der Web-Seite des Autors zum kostenlosen Download angeboten (eine Übersetzung woanders).

Lesen! Verschenken! Besonders Little Brother an Jugendliche! Da steht nahezu alles von dem drin, worüber ich hier schreibe; allerdings unterhaltsam, spannend und haarsträubend.

Letzte Änderung dieses Abschnitts: 2019-07-24 14:19:02